13.02.2016

ELDORADO Reiseblog #10 / Playa de Belén

29.01.2016 / Playa de Belén

Krasse Busfahrt via Bucaramanga, Ocana, vorbei an dem wohl beeindruckendsten Canyon des Landes. Erst wird Clarisse schlecht, die uns bis Bucaramanga begleitet, in der heissen Ebene vor Aguachica kämpft Dirk mit seinem Magen. Und als wir wieder in Berge kommen, wird Yamile übel. Nun haben wir hier in dem skurrilen Hostel ein kleines Krankenlager. Wir teilen unser Zimmer in dem beschaulichen Ort mit Hervé, einem Schweizer ...
Im Grunde hat der Ort drei Strassen, die parallel verlaufen, ein Kolonialdorf, wie es im Buche steht: die weißgetünchten Häuser mit den Ziegeldächern - alles verläuft in einheitlichen Zeilen. Im Innern der Häuser wird dann eine erstaunliche Lebendigkeit sichtbar - die vielen Zimmer und lichten Innenhöfe, die in den Wohnungen wie Zimmer ohne Dach wirken.


Unser Gastgeber ist anders als die bisherigen temperamentvollen Latinos ein recht ruhiger, vielleicht etwas kauziger und sehr liebenswürdiger Mann. Irgendwie wohnen wir mit ihm jetzt hier in WG, und durchschaue noch gar nicht, wer hier eigentlich noch alles nächtigt - eben verschwand eine korpulente Krankenschwester in einem hinteren Zimmer.

Wir werden zum ersten Mal nach dem Gespraech mit Paolo Lugari eindringlich vor der Guerilla gewarnt. Hervé hatte eine Begegnung mit Leuten vom Roten Kreuz, die ihn davor warnten, sich hier zu weit vom Ort zu entfernen - im letzten Jahr wurde ein Holländer für drei Monate entführt. Die lange Strasse auf der andere Seite des Ortes führt direkt in das Gebiet, das von drei Guerillas kontrolliert wird.
Ich weiß noch nicht recht, was ich mit dieser Nachricht anfange, zumal die Hälfte der Crew gerade krank ist.
Erstmal ankommen hier - und ins Bett ...

30.01.2016 / Playa de Belén

Erwachen mit jetzt vier kranken Mitfahrern, alle liegen im Bett und sind erschlafft - unterbrochen von kleinen Sprints auf die Toiletten.
Da sich die anderen zu viel Sorgen machen, gerade wegen der Geschichte des Schweizers von dem entführten Holländer, gehe ich nun auch nicht auf eigene Faust in die atemberaubene Sandfelsen-Landschaft hinaus - ein Naturpark, der keiner mehr ist, weil durch die starken Erosionen keine Sicherheit gewährleistet werden kann. Ich schlendere durch den Ort und sitze auf dem Friedhof, der weit über der Siedlung liegt, von hier aus kann man das ganze Dorf sehen, und die Strasse, die sich zwischen den Bergen in Richtung Guerilla-Gebiet schlängelt. - Obwohl heute Samstag ist, sind in der Stadt grosse Bauarbeiten angesagt - Dächer werden gedeckt - unter anderem auf der Polizeistation, die in den letzten Jahren mehrfach attackiert wurde. In der Strasse sitzen fünf Polizisten mit schuss-sicheren Westen und MPi's.


Die kleine Pause in dem verschlafenen Ort kommt mir ganz gelegen - auch wenn ich ganz gern in den Felsen herumgekraxelt wäre. Ich sitze im Patio des Hostal Don Gota, dem Haus von Ramon David Velasquez in the middle of nowhere, lasse meine Gedanken kreisen und  habe wieder etwas Zeit zu lesen - nach langer Zeit Claude Levi-Strauss' "Traurige Tropen", das ich mir für die Reise bereitgelegt hatte.
Es beginnt mit den Worten:
"Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende. Trotzdem stehe ich im Begriff, über meine Expeditionen zu berichten ... Gewiss kann man eine sechsmonatige Reise voller Entbehrungen und tödlicher Langeweile auf sich nehmen, um einen unbekannten Mythos, eine neue Heiratsregel oder eine vollständige Liste von Clan-Namen zu sammeln, doch verdient eine armselige Erinnerung wie die folgende: 'Morgens um 5 Uhr 30 legten wir in Recife an, während die Möwen kreischten und eine Schar von Händlern, die Südfrüchte anboten, sich um das Schiff drängten', dass ich die Feder in die Hand nehme und sie festhalte? Aber genau diese Sorte von Berichten geniesst eine Beliebtheit, die mir unerklärlich ist ... Heutzutage ist es ein Handwerk, das darin besteht, eine Vielzahl von Kilometern zu durchrasen und möglichst farbige Bilder und Filme anzusammeln, mit deren Hilfe man mehrere Tage hintereinander einen Saal mit einer Menge Zuschauer füllen kann ..." - Neben seinen Berichten, die er hier irgendwie zu entschuldigen scheint, sind das sehr eindringliche Sätze, auch um das eigene Vorhaben zu hinterfragen, und mich für manch schnell hingeschriebenen Eindruck ein wenig zu schämen.

Gerade während des Reisens ist der Mut zum Verweilen und Bleiben ein hohes Gut.


Beim Versuch, Hervé und unserem Vermieter David zu berichten, was wir auf unserer Reise vorhaben, ist El Hombre gestern wieder aktiv geworden - es ist erstaunlich, welche Wirkung diese Puppe entfaltet, kaum tritt er auf den Plan, beginnen die Leute zu reden, zu lachen, Geschichten zu erzählen - das funktioniert über alle Sprachbarrieren hinweg. Wenn die anderen nicht so malade wären, könnte dieser entlegene Ort sehr geeignet sein, um auf dem kleinen Platz vor der Kirche eine kleine Aufführung zu machen.

"Traurige Tropen":
"... Nie wieder werden uns die Reisen, Zaubertruhen voll traumhafter Versprechen, ihre Schätze unberührt enthüllen. Eine wuchernde, überreizte Zivilisation stört für immer die Stille der Meere. Eine Gärung von zweifelhaftem Geruch verdirbt die Düfte der Tropen und die Frische der Lebewesen, tötet unsere Wünsche und verurteilt uns dazu, halbverfaulte Erinnerungen zu sammeln. Heute, da die polynesischen Inseln in Beton ersticken und sich in schwerfällige, in den Meeren des Südens verankerte Flugbasen verwandeln, da ganz Asien das Gesicht eines verseuchten Elendsviertels annimmt, Afrika von Barackenvierteln zerfressen wird, Passagier- und Militärflugzeuge die Reinheit des amerikanischen und melanesischen Urwalds beflecken, noch bevor sie seine Jungfräulichkeit zu zerstören vermögen, - was kann die angebliche Flucht einer Reise da anderes bedeuten, als uns mit den unglücklichsten Formen unserer historischen Existenz zu konfrontieren? Denn der westlichen Kultur, der grossen Schöpferin all der Wunder, an denen wir uns erfreuen, ist es nicht gelungen, diese Wunder ohne ihre Kehrseiten hervorzubringen. Und ihr berühmtestes Werk, der Pfeiler, auf dem sich Architekturen von ungeahnter Komplexität erheben: die Ordnung und die Harmonie des Abendlandes, verlangt, dass eine Flut schädlicher Nebenwirkungen und -produkte ausgemerzt wird, die heute die Erde vergiften. Was uns die Reisen in erster Linie zeigen, ist der Schmutz, mit dem wir das Antlitz der Menschheit besudelt haben ...." - Und das hat er 1955 geschrieben ... Ich denke das auf meinen Theater-Reisen auch sehr oft, wo immer ich hinkam: sei es Pakistan, Iran, Tunesien, Indien, Australian oder jetzt Kolumbien, Coca-Cola, Pepsi, Nestlé, unser Müll sind immer schon vor mir da. - Andererseits will ich aber versuchen, das zu sehen und zu lesen, was ich derzeit erblicke und nicht nur Dingen nachhängen, die gestern einmal waren und nun unwiederbringlich fort sind.
Ähnlich schreibt auch C.-L. Strauss weiter:
Ein Reisender des Altertums sein oder ein moderner Reisender, der den Überresten einer verschwundenen Realität nachtrauert? "In jedem Fall bin ich der Verlierer ...: denn bin ich, der ich Schatten nachtrauere, nicht unempfänglich für das wirkliche Schauspiel, das hier und heute Gestalt annimmt, aber das  zu beobachten meine heutigen menschlichen Fähigkeiten nicht ausreichen?"


Nun wandern wir heute doch noch in gebremstem Tempo durch den surrealistischen Nationalpark, der mit seinen Sandsteingebilden an Bilder von Max Ernst erinnert. Sabine und Yamile sind aus dem Krankenbett auferstanden und wir sind alle drei etwas vertrant und gehen eher traumwandlerisch durch diese Landschaft.
Auf dem Rückweg werden wir von unzähligen Mopeds und Motorrädern überholt, darauf sitzen Männer, Frauen und Kinder ... eine grosse motorisierte Herde ... mittendrin ein Kleinbus mit einem Sarg beladen - die bunte Gemeinschaft hält vor der Kirche und der Sarg wird hineingetragen - und schon beginnt die Totenmesse, noch mehr Menschen strömen nach und nach in die Kirche. Das Trauerschwarz trägt man hier nicht. Das ist jetzt die dritte Beerdigung, die ich hier erlebe: man scheint hier den Tod des Verstorbenen zu betrauern und zugleich das Leben zu feiern.

Später am Abend sitzen wir noch vor unserem Haus, "Hostal Don Gota", auf dem Bordstein und lauschen dem Ort. Wieder ein Platz, an dem ich einfach hängen bleiben könnte - am nächsten Morgen brechen wir dennoch auf und verabschieden uns von Ramón David Velasquez, unserem Wirt, dessen freundlich traurige Augen ich nicht vergessen werde. "Don Gota" - das ist sein Vater Gottardo, dem dieses Haus einst gehörte, sein Bild hängt im Mittelzimmer, und eine kleine Galerie mit Fotos von David's Tochter - die Mutter, also seine Frau, ist mit 47 Jahren verstorben und sein grösster Traum ist es, dass sie wieder zurückkehrt.
Unser Schweizer Mitbewohner Hervé wird unverhofft bis Mompox unser Begleiter.