16.01.2016

ELDORADO / Reiseblog #2 Bogota

14.01.2016 / Notiz - Ankunft / Bogotá
Fernando und Jonathan, unsere Gastgeber, sind derzeit nicht da, haben uns einen Begrüßungswein und einen kleinen Brief hinterlassen - und Josh und Os, die beiden jungen WG-Mitbewohner, und Aurelio, den Hund mit dem Knickohr.
Os erzählt von seiner Heimat im Chocó im Nordwesten Kolumbiens. Er fasst es kurz zusammen: auch wenn es kein Internet gibt, das dort ist das Paradies ... Ja, das sagte er von seiner Heimat, in die er immer wieder gern zurückkommt: Es ist das Paradies. Ich habe das noch niemanden über seine Heimat sagen hören (mal abgesehen von den paradisiesischen Orten der Kindheit, die sicher viele Menschen kennen ...). - Von nun ist Chocó ein Ziel unserer Reise, mit dem Boot sollen wir dort hinfahren und nicht, wie die meisten es machen: fliegen. ...

15.01.2016 / Notiz "Merkwürdiges am 15.01.2016" / Bogotá
- ein Mann, der mit einem stiellosen Besen den Bürgersteig fegt
- ein Mann, der einen sehr schweren, hochbepackten Karren voller Müllsäcke  und anderem Zeug die Strasse entlang zieht - zwischen den Säcken schaut der Kopf eines Kindes mit roter Mütze hervor
- Yamile, Jule und Dirk testen Steinpapier
- Die erste Krise - wir bringen die Planungen der Pensionsbesitzer durcheinander, der Unmut landet bei Yamile, weil sie die Einzige von uns ist, die fließend Spanisch spricht.
- Wir sitzen neben dem Zentrum Gaviotas im Gras, ein kleiner Stein kommt geflogen und reißt Jule die Zigarette aus der Hand - ein Angriff, eine Warnung, ein Versehen?

15.01.2016 / Encuentro en el centro Las Gaviotas / Bogotá


Ich hatte den Termin mit Spannung erwartet, ohne genau zu wissen, was ich mir für uns davon verspreche. Also heute - das Treffen im Centro Las Gaviotas, gar nicht weit weg von hier direkt am Berg und wir haben tatsächlich Paolo Lugari persönlich getroffen. - Merkwürdig, dem Menschen aus einem Buch gegenüber zu sitzen, das einem so wichtig geworden ist.
Wie eine Festung von glassplitterbewehrten Mauern umgeben, das Stahltor von zwei Wachmännern beschützt, macht das Zentrum ansonsten einen friedfertigen, verspielten Einduck, die berühmten Gaviotas-Windmühlen ragen gelb und grün statt Wachtürmen in die Höhe, überall windbetriebene Objekte und die Farben Gelb, Grün, Rot geben etwas von der Lebenslust wieder, die ich beim Lesen von Alan Weisman's "Gaviotas"-Buch gefunden habe. Dennoch - man muss sich anscheinend schützen, wehrhaft sein / hier anscheinend noch mehr als in Las Gaviotas selbst, das ja mitten im Konfliktgebiet in den Llanos liegt.
In seinem Büro sitzt Pablo Lugari vor dem großen Fenster am Schreibtisch, ein freundlicher bärtiger Felsen von einem Mann; der Raum voller Bücher und Manuskripte, Fotos, Spielzeuge und kleine Skulpturen, die offensichtlich einmal Getränkedosen, Fahrradschläuche und dergleichen waren. - Zunächst schiebt er uns allen ein Manuskript herüber und gibt uns fünf Minuten, es durchzulesen. Es ist ein Artikel aus einer kolumbianischen Zeitung, der die Arbeit von Las Gaviotas, insbesondere von Paolo, aktuell zusammenfasst. Es ist in etwa das, was von Gaviotas und Paolo bekannt ist, wenn man das Weisman-Buch gelesen hat, und ist in so einem miserablen Deutsch geschrieben, dass ich ihm anbiete, eine passable deutsche Fassung zu verfertigen. Das nimmt Paolo dankend an und schiebt uns darauf einen dicken Wälzer rüber - der müßte auch mal bezüglich deutscher Übersetzung durchgesehen werden ... - Hier scheint etwas von Lugaris Freiheitsbegriff auf - ich könnte eine Verpflichtung daraus ableiten, oder aber daran Spass entwickeln, mich jetzt daran zu setzen oder aber einfach sagen, dass ich dafür gerade gar keine Zeit habe ... das ist alles schon in seiner Bitte impliziert und auch ist nicht zu erwarten, dass es eine Gegenleistung gäbe, wenn ich ihm eine tolle Übersetzung des ganzen Buches am Ende unserer Reise brächte ...
Die Möglichkeit, Las Gaviotas in den Llanos zu besuchen, schließt er für uns leider gleich aus. Die Sicherheitslage in der Region lasse das derzeit nicht zu. Die einzige Variante wäre, dass wir mit einem Charterflug frühmorgens kommen und vor fünf Uhr nachmittags wieder starten, manche Deutsche und Japaner machen das. Das ist eher ein Witz, weil wir uns keinen private Charterflug leisten können, und das wäre auch eine Art Visite, an der wir kein Interesse hätten. Dirk hakt noch mal nach, schließlich wollten wir doch auf unserer Expedition unbedingt dorthin. Doch Paolo meint, es müßte schon um Leben und Tod gehen; schließlich hätte er als Gastgeber die Verantwortung für uns - und die möchte er in diesem Fall nicht tragen. - Das Thema Sicherheit schwebt irgendwie die ganze Zeit über uns. - Carlos, der Fahrer vom Goethe-Institut, der uns hierher gefahren hat, rät uns dringend ab, zu Fuss zurück zu laufen und meint,  es wäre wirklich zu gefährlich. - Als wir neben dem Zentrum noch eine Weile im Gras sitzen, weil wir noch etwas Zeit bis zum Treffen haben, läuft eine Frau mit einem Bündel Blätter an uns vorbei und warnt uns, hier nicht zu sitzen, weil es gefährlich ist und Diebe unterwegs seien. Wir bleiben sitzen und quatschen weiter. Dann der Steinwurf aus unbekannter Richtung, der oben schon mal erwähnt ist, hm. - Und auch Paolo und der Wachmann warnen uns und geben Tipps, wie wir uns bewegen sollten ...  Hm, ich bin hin- und hergerissen ... übertreiben die jetzt nicht ein wenig? - Schließlich sind wir zu fünft und sind im letzten Jahr genau diese Strasse entlang gelaufen. --
Was bleibt von diesem Treffen mit Paolo? Er gefällt sich sehr in seiner Rolle des Geschichtenerzählers, auch in der Freiheit, sich zu widersprechen und seine Meinung zu ändern zu können. / 200 Menschen leben in Las Gaviotas, wenn es mehr sind, kann man sich Namen und Gesichter nicht mehr merken, "Faces", sagt er. "Not Facebook." Werden es mehr Menschen, muss eine neue Community entstehen. / 200 Menschen haben in einer Gegend, in der das eigentlich nicht möglich ist, 3 Millionen Bäume gepflanzt. Wälder sind entstanden - für Lugari ist das das Wichtigste überhaupt, um der wachsenden Weltbevölkerung zu begegnen und die drohenden Veränderung der Erdatmosphäre zu verhindern. / Dann gibt er uns in Quasi-Mission mehrere Blöcke Schreibpapier mit, die nicht aus Holz gemacht sind. Eine kanadische Firma hat ein wetterbeständiges und wasserfestes Papier entwickelt, das aus Stein, aus Abfällen der Bauindustrie hergestellt wird. "Warum ist das noch so wenig bekannt? Nehmt das mit nach Hause und macht Werbung dafür!"
Yamile, die die ganze Zeit übersetzt, weil Paolo nicht Englisch sprechen möchte, blüht förmlich auf und bildet mit Paolo ein witziges Erzählerpaar. Es wird überhaupt viel gelacht; Optimismus, Freiheit und Wahnsinn fliegen als verwandte Fetzen durch den Raum.